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/Sylvia\

by on 23 November 2018

Review of /Sylvia\ in English here

Verdrehte Ikone einer ganzer Zeitepoche

/Sylvia\

Von Ja?, nach einem Theaterstück von Stéphane Ghislain Roussel

Ja? Theatre Company im Etcetera Theatre, London bis 18. November

Voila Europe Festival

Bewertung von Louise Rauhreif

Da sitzt sie! Das Monokel ins Gesicht geklemmt, das Haar gestutzt und gescheitelt, das selbe unförmige Karokleid mit dem hohen Kragen, dass man bloß keine weiblichen Kurven erahnen kann. Auf dem Tisch vor ihr sind sorgfältig die Champagner Flöte und ein graviertes Zigarettenetui zurechtgelegt. Am meisten aber ist es die Pose, die spitzen Schultern, kantig und hochgezogen in seltsamem Winkel, die großen Hände, die langen Finger, Beine, Körper, alles verdreht und verdrechselt in bizarrster Anordnung. Das Portrait der Journalistin Sylvia von Harden von Otto Dix mag vielleicht nicht mehr schockieren wie 1926, doch ist es zweifellos eines der unverwechselbarsten, unmittelbar erkennbarsten Gemälde des 20sten Jahrhunderts, schaffte es doch genau was sein Schöpfer sich vorgenommen hatte – eine gesamte Ära auf Leinwand zu bannen.

Dix, berühmt und berüchtigt für seinen nicht gerade vorteilhaften Blick auf die verwahrloste, verrottete Gesellschaft der Weimarer Republik, verzerrte seine Huren, Bettler, Krüppel und Kriegsversehrten, Mörder, Diebe und Zirkusartisten bis ins Groteske, jeder Makel, jede Hässlichkeit überzeichnet und übertrieben wie Comicbuch Fratzen. Der Legende nach traf er Sylvia, ein festes Mitglied der Berliner Intellektuellen – und Literaturszene, in eben jener verdrechselten Pose im Romanischen Café am Kudamm sitzend an und ließ sich hinreißen zu dem Ausruf: “Ich MUSS Sie malen!” Er sah in der groben, harten, großen Type die Personifizierung der Neuen Frau, jenem gerade angesagten, burschikosen Bubikopf-Idealbild der Moderne. Sylvia lässt sich porträtieren, eine Stunde jeden Tag, wochenlang, das Stillsitzen fallt ihr schwer, das Resultat beurteilt sie als “befremdlich”, doch ist sie auch unheimlich stolz auf ihr Bildnis, dass sie noch als alte Frau im Centre Pompidou besucht, um sich danebenstehend fotografieren zu lassen.

 

Sylvia Ja

Wir lernen Sylvia kennen während sie für den Maler posiert, zappelig, gelangweilt, ihr reger Geist, ihr neugieriger Journalisten-Instinkt kann das Stillsitzen kaum ertragen und über kurz oder lang muss sie uns, dem Publikum, in die Position des observierenden Malers gedrängt, einfach unbedingt etwas erzählen. So ganz genehm ist ihr der bohrende, urteilende Blick des Malers auf ihren Körper nicht – doch irgendwie ist die ungeteilte Aufmerksamkeit auch ganz schmeichelhaft…

Der Geschlechter übergreifende Darsteller Joseph Morgen Schofield spielt Sylvia als eine umwerfend charmante, launige, mal nachdenkliche, mal Witz sprühende scharf beobachtende Klatschtante. Besonders die beinahe bis ins unerträgliche ausgedehnten, genüsslich ausgekosteten Momente der Stille bezeugen seine unglaubliche Bühnenpräsenz. Wir sind ganz im Bann seiner langen Finger, die seelenruhig nach den Zigaretten greifen, den bemalten Lippen die genüsslich inhalieren, innehalten, Rauch ausblasen, wir sehen, nein hören, den Adamsapfel schlucken… Otto Dix malte Sylvia um die traditionellen, gerade aufbrechenden Geschlechterrollen in Frage zu stellen – Monocle, Portrait de S. von Harden, das Theaterstück des Luxemburger Künstlers Stéphane Ghislain Roussel, geschrieben für einen Darsteller nichtspezifischen Geschlechts, möchte im Namen von Sylvia unsere aktuellen Ideen hinsichtlich Geschlechter-Identität oder Geschlechtslosigkeit erforschen. Mit der ersten Englischen Übersetzung des im Original halb Französisch halb deutschen Textes erhofft sich die Ja? Theatre Company, Sylvia, die immer noch das eine oder andere Französische bon mots elegant in ihren Monolog mixt, zu einem mehr internationalen, allgemeingültigen Symbol für Genderfluidity zu erheben. Die weiße Leinwand als Hintergrund dient simultan als Rahmen für die kleine Szenerie und als multimediales Fenster in eine Zukunftsprojektion, in der eine modern Sylvia (Caroline Tyka) einen heutigen Großstadtjungel erkundet. Zunächst tragen die kleinen Filme von rasenden Zügen, Neonlichtern und Straßenlärm schön zur urbanen Atmosphäre bei, während uns Sylvia von den “pailettenglitzernden” Berliner Nächten erzählt. Doch was die zweite Sylvia auf dem Bildschirm, immer wieder unterbrechend mit kurz und kürzer geratenen Deutschen Redefetzen, zum Stück beiträgt, bleibt mehr oder weniger unklar. Vielleicht ist sie einfach da um gegen die schleichende Nostalgie anzukämpfen, die sich schon mal breitmachen kann, wenn Schofield mit der brüchigen Stimme einer Cabaret Diseuse zum Schellack-Platten-Knistern singt. Ein magischer Moment von fragiler Schönheit, sofort unterbunden mit einer selbstironischen Bemerkung – bloß schnell über die eigene Sentimentalität lachen, bevor es ein anderer tut.

Sylvia PromoDie Unsicherheit der gemeinhin als hässlich oder zumindest unkonventionell befundenen Frau ist unübersehbar, in ihren sehnsüchtigen Beschreibungen des üppigen Fleisches der Cabaret Tänzerin Martha oder dem weichen wollüstigen Wellenhaar einer Anita Berber, jener weiteren Ikone der Zeitepoche, die mit ihrer Schönheit “einfache Männer zu Poeten erheben konnte”. Ob wohl ihr Aktueller, Felix, sich auch für sie, Sylvia, erhängen wurde, wie es ein Verehrer der kurvigen Martha tat? Ob wohl sie, Sylvia, unter Dix geübtem Pinselstrich zu einer rotgelockten Sirene wie Anita Berber werden könnte? Vor unseren Augen erleben wir eine blitzgescheite, gebildete Frau, die dem bohrenden Blick auf ihr Äußeres ausgesetzt, nichts lieber wäre als sinnlich und begehrenswert. Gerne gibt sie sich auch mal ein bisschen dumm und kokett, imitiert den überkandidelten Glamour einer Sally Bowles. Je sündiger desto schicker im Weimarer Berlin, und genau wie der Rest der Gesellschaft ist auch Sylvia der verheißungsvollen Strahlkraft von Klatsch und Tratsch, Skandalen, Moralen und Verruchtheit verfallen. Doch es ist alles nur Pose. Eine Inszenierung. Der Typus der Neuen Frau ist letztendlich ein Konstrukt, ebenso hohl wie das Karokleid, das wie ein verwehtes Gespenst, ein leere Hülle auf dem Stuhl zurück bleibt.

Gerne verbringt man eine Stunde in Gesellschaft der charmanten amüsanten Sylvia, des ebenso charmanten amüsanten Joseph Morgen Schonfield. Otto Dix mag berühmt gewesen sein für seinen “bösen Blick”, ohne Erbarmen jeden Makel hervorzerrend – /Sylvia\ hingegen widmet sich mit Mitgefühl und Wohlwollen der Schönheit die denen inne lebt, die in keine Schubladen passen.

Louise Rauhreif
November 2018

Fotografie von Christina Bulford

From → Cabaret, Drama, Fringe, Reviews

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